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Leitlinie 2 – Die Berliner Mitte



Leitlinie 2:
Die Geschichte der Berliner Mitte wird zukünftig besser sicht- und erlebbar gemacht.
Anmerkungen von Harald Bodenschatz
Vorbemerkung
Geschichte wird gemacht. Seit Beginn unserer Debatte über die Berliner Mitte haben sich die Verhältnisse, in denen wir diskutieren, gewaltig verändert: Berlin wurde mit neuen Herausforderungen konfrontiert, das Image von Berlin ist angeschlagen, in der Republik wie in Europa, und auch die politische Lage in der Stadt ist in Bewegung. Eigentlich müsste unsere Debatte all diese Veränderungen reflektieren, die ja keineswegs kurzfristig sind.
Die Geschichte der Berliner Mitte sollte in der gesamten Mitte sichtbar werden, nicht nur im großen Freiraum.
Die vielfältige und vielschichtige Geschichte der Berliner Mitte soll erlebbar gemacht werden. Wunderbar, aber geht das so einfach? Was bedeutet das in einer Stadt, die ihre Geschichte in einer Intensität vergessen hat wie kaum eine andere Großstadt in West- und Mitteleuropa? Was bedeutet das in einer Stadt, die das materielle Erbe, an dem Geschichte in besonderer Weise sichtbar wird, so stark abgeräumt hat wie kaum eine andere Großstadt in West- und Mitteleuropa? Was bedeutet das nach einem Verfahren, an dessen Ende wir über die Geschichte eigentlich nicht mehr wissen als vorher? Soll Geschichte nur im großen Freiraum sichtbar gemacht werden, wenn zum Beispiel in unmittelbarer Nähe das Stadtmuseum Berlin aktiv ist und im neuen Humboldtforum die Weltstadt Berlin mehr oder wenig plakativ präsentiert werden soll? Ist es sinnvoll, die Geschichte von der Zukunft zu isolieren oder beide sogar gegeneinander auszuspielen? Können wir dieses Thema nur auf der lokalen Ebene diskutieren, angesichts des außerordentlichen internationalen Interesses an der Geschichte Berlins? Und welche Geschichte bitte soll sichtbar gemacht werden?
Ohne Leitlinien zur Geschichte der Berliner Mitte bleibt jeder Vorschlag ein Fragment.
Die letztere Frage mag merkwürdig erscheinen, ist aber von erheblicher strategischer Bedeutung. Denn keine Stadt stellt sich mit einer linearen, rein beschreibenden Geschichte vor, jede Stadt konzentriert sich auf bestimmte Perioden – das ist sicher in jedem Einzelfall diskutabel, aber im Grundsatz richtig und ohne Alternative. Jede Auswahl ist eine Entscheidung von heute. Eine Stadt, die ihre Geschichte wenig kennt, die keine Erfahrung mit der Verarbeitung ihrer Geschichte hat, wird diese Frage weder stellen noch zu beantworten suchen. Wir brauchen aber Leitlinien für die Geschichte der Berliner Mitte, die über hohle Worte hinausgehen, um nicht als Sammler und Jäger zu enden.
Ein Platz vor dem Rathaus ist sinnvoll – ein Platz, keine weitere introvertierte Insel.
Ein Demonstrationsplatz vor dem Rathaus ist sicher sinnvoll: Das müsste aber ein Stadtplatz sein, kein flutender Raum, in dem jede kleine bis mittlere Demonstration kläglich verschwindet. Außerdem müsste ein solcher Platz in ein übergeordnetes Konzept für die gesamte historische Mitte eingebunden werden, es sollte nicht eine weitere isolierte, introvertierte Insel entstehen.
Bühne der Toleranz – eine solche Perspektive könnte die Vergangenheit mit der Zukunft der Berliner Mitte verknüpfen.
Welche Perioden sind aber für Berlin wichtig? In dieser Frage bündeln sich viele weitere Themen. Mein Vorschlag wäre: Wir sollten uns auf das Mittelalter, die Zeit der Aufklärung, die NS-Zeit und die DDR-Zeit in besonderer Weise zu konzentrieren, ohne die Kaiserzeit und die Weimarer Republik zu vergessen.
Warum das Mittelalter? Damals war Berlin eine kleine Bürgerstadt im Osten, die im Schatten anderer, bedeutenderer deutscher und erst recht europäischer Städte stand. Diese bescheidenen Wurzeln sind einzigartig. Sie zu erinnern dokumentiert ein neues Selbstbewusstsein, das eine prahlerische Großmannssucht nicht mehr nötig hat. Warum die Zeit der Aufklärung, die Zeit, als Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing in Alt-Berlin wirkten? Das war eine Periode nicht nur der Toleranz, sondern auch der fruchtbaren Kooperation über religiöse Unterschiede hinaus. Warum die NS-Zeit? In den gewaltsamen, intoleranten 1930er Jahren begann der umfassende Zerstörungsprozess der Mitte, der bis heute aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeklammert wird. Und schließlich müssen wir an die DDR-Geschichte erinnern, an die Zeit also, in der Berlin als Frontstadt des kalten Krieges Weltbedeutung hatte, eine Zeit von ebenfalls großem internationalem Interesse.
Dieser Blick auf die Geschichte könnte in einer politischen Botschaft, in einer Sinnstiftung gebündelt werden: Berliner Mitte – Bühne der Toleranz. Diese Botschaft wäre auch eine mögliche Antwort auf meine Vorbemerkung.
Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Plattform zur Klärung dessen, was wir sehen wollen und was nicht.
Ein Verständnis von Geschichte und deren Bedeutung für die Zukunft entsteht nicht durch Vorträge von Experten, sondern durch einen gesellschaftlichen Prozess, der den Streit der Experten mit einschließt, aber auch durch Ausstellungen aller Art, durch Vorschläge aus ganz anderen Themenfeldern als den unsrigen, es entsteht im Streit um Gestaltungsentwürfe, in Debatten, was uns das Erbe der Vergangenheit heute bedeutet und was wir künftigen Generationen überliefern wollen, und nicht zuletzt durch Einbindung ausländischer Erfahrungen und Erwartungen. Dafür bedarf es geeigneter Plattformen. Eines sollte dabei klar sein: Wir machen Geschichte nicht sichtbar, sondern wir entscheiden, was wir sehen wollen und was nicht. Eine eminent politische Frage, die zu Recht Streit mit sich bringt.